Von Mario Natale (kommunaler Revierförster Saarlouis) – Auszug aus „Das Märchen von der Ökojagd“, August 2011
„Raubtier“ Mensch?
Jäger geben gerne vor, sie müssten die Rolle der Raubtiere übernehmen. Dabei ist umstritten, ob Raubtiere (Beutegreifer) die Populationsdichte ihrer Beutetiere wesentlich beeinflussen. Fest steht, dass die Räuberdichte vom Beutetiervorkommen abhängt und eben nicht umgekehrt. Raubtiere leisten ihren Beitrag vorrangig hinsichtlich Selektion der schwachen und kranken oder unaufmerksamen Beutetiere und verbessern damit deren genetische Substanz.
Wonach selektiert aber ein menschlicher Jäger? Tatsächlich kann er überhaupt nur eingeschränkt selektieren, denn die Gesetze verhindern dies teil- und zeitweise, wie z.B. durch Schonzeiten. Vom Hochsitz aus oder bei einer Treibjagd kommt es zudem niemals zum Kräftemessen wie bei Wildtieren. Der Jäger mit Hochleistungsoptik und komplizierten Präzisionswaffen bekommt fast Alles vor die Flinte. Und meistens schießt er es auch. Nicht unbedingt jedes einzelne Tier, aber alle Kategorien: mal ein krankes Tier, überwiegend aber kerngesunde Tiere und gelegentlich sogar kapitale Hirsche, Rehböcke oder Keiler. Wonach soll ein bewaffneter Jäger ohne Raubtierinstinkt auch selektieren? In der Evolution ist der Mensch längst nicht mehr als Jäger vorgesehen. Und durch ein Fernglas sind die Evolutionskriterien des Wildes nicht erkennbar. Der Zufall entscheidet. Eine Selektion nach den Gesetzen der Natur spielt sich im Verborgenen ohne Jäger ab.
Muss der Mensch jagen?
Wer die angebliche Notwendigkeit der Jagd als Raubtierersatz hinterfragt, gelangt schnell zu Widersprüchen. Es ist doch wohl kaum eine Notwendigkeit, welche Jagdurlauber regelmäßig ins Ausland zieht, um dort auf Großtiere (sogar Raubtiere) zu jagen? Worin liegt die Notwendigkeit bei der Jagd auf sogenanntes Niederwild wie Schnepfe oder Rebhuhn, welches Großraubtieren überhaupt nicht zum Opfer fallen würde? Warum wird das einheimische Raubtier Fuchs bekämpft, wenn man dies bei Großraubtieren als Fehler der menschlichen Vergangenheit einsieht? Und warum beruft sich die Jagd vorrangig auf ein Grundrecht, das mit wildbiologischen Aspekten überhaupt nichts zu tun hat („Eigentumsrecht“)?
Unter Berücksichtigung, dass der Mensch nicht nach den Gesetzen der Natur selektieren kann, muss man wohl eingestehen, dass wildbiologische oder ökologische Argumente für die heutige Jagd nicht vorrangig sein können. Das ist auch bei angeblich „ökologischen“ Jagdverbänden nicht anders. Das Attribut „ökologisch“ soll zwar suggerieren, dass eine an der Umwelt und an Naturgesetzen orientierte Jagd erfolgt. Eine tatsächlich ökologische Jagd im Sinn der Wortbedeutung müsste allerdings den natürlichen Prozessen immer Vorrang geben. Sie müsste dann das Ziel haben sich letzten Endes selbst irgendwann überflüssig zu machen. Dieses Ziel hat zweifelsfrei kein Jagdverband, denn alle verstehen sich ausdrücklich vorrangig als Jagd-Verband, und ihre Mitglieder sich vorrangig als Jäger und nicht als Tier-, Natur- oder Umweltschützer.
„Wald vor Wild“?
Im Namen der „ökologischen“ Jagd wird von Forstleuten gerne das Motto „Wald vor Wild“ propagiert, was eine radikale Jagd auf Reh und Hirsch bedeutet. Motiv sind mögliche Fraßschäden durch Wild an Forstpflanzen, vorwiegend am natürlichen Nachwuchs junger Bäumchen. Das Wild soll möglichst keinen Einfluss auf die vorkommenden Baumarten haben. Die Logik: Wenn der Faktor Wild ausgeschlossen ist, kann der Wald ganz „natürlich“ wachsen.
Mit dem radikalen Motto grenzen sich die „Ökojäger“ (häufig Forstleute) bewusst von den konservativen Jägern ab, die gegensätzlich oft ohne Rücksicht auf die Waldsituation vorrangig um die „Hege“ hoher Wildbestände bemüht sind. „Wald vor Wild“ definiert die ausschließliche Priorität des Waldes. Das Motto ist tatsächlich wörtlich und ernst gemeint. Aus ökonomischer Sicht eines Waldeigentümers ist es nachvollziehbar. Ökologisch ist eine solch einseitige Perspektive allerdings zweifelsfrei genauso wenig wie das Gegenteil, eine zuchtartige Wildbewirtschaftung im Gehege Wald. Das sogenannte Schalenwild ist Bestandteil unseres Ökosystems. Wenn Wechselbeziehungen zur Vegetation einfach unterbunden werden, indem der Faktor Wild ausgeschaltet werden soll, kann von einer Lehre über diese Beziehungen (=Ökologie) wohl keine Rede mehr sein.
Das Motto „Wald vor Wild“ erscheint demnach nicht ökologisch im Wortsinn. Ziel einer „ökologischen“ Jagd darf nicht sein, den vorhandenen Lebensraum für bestimmte Tierarten zu sperren. Ziel müsste vielmehr sein, ein Gleichgewicht zu fördern, das der jagende Mensch aufgrund eigener Befangenheit nicht herstellen kann. Denn alle Jäger jagen ausnahmslos einfach zu gerne selbst.
Wald ohne Jagd
Dass ein Wald ohne Jagd auskommen kann, zeigen verschiedene Nationalparks, z.B. der italienische Nationalpark Gran Paradiso, wo seit 1922 nicht gejagt wird. Handfeste ökologische Gründe, weshalb in deutschen Nationalparks kein generelles Jagdverbot besteht, gibt es nicht. Die Jägerschaft konnte sich bisher jagdpolitisch durchsetzen, wie es sich auch aktuell in einigen Punkten der saarländischen Jagdgesetznovellierung abzeichnet. Solange sich die Jägerlobby jagdpolitisch sogar überwiegend in Nationalparks durchsetzen kann, können Tier- oder Naturschützer mit ihrer Forderung nach einer generellen Abschaffung der Jagd nur ins Leere laufen. Dabei wären Erkenntnisse aus verschiedenen einheimischen Nationalparks über mehrere Wildtiergenerationen hinweg eine wichtige Diskussionsgrundlage.
Die These der Notwendigkeit der Jagd ist in Wirklichkeit nämlich bloß ein von Jagdscheininhabern aufgestelltes Postulat (Behauptung). Wir haben keine Erfahrungen darüber, wie sich Deutschland über mehrere Waldgenerationen (Jahrhunderte) ohne Jagd entwickeln würde. Die fachliche Kompetenz für Szenarien wird bisher ausschließlich jagdlich befangenen Jagd- und Forstleuten zuerkannt.