von Jürgen Heimann
Sie kommen aus dem Nichts. Plötzlich sind sie da. Pünktlich. Die Abenddämmerung ist nicht mehr weit. Es ist ein unglaubliches (Natur-)Schauspiel. Eines, das man in dieser geballten Intensität vermutlich so schnell nicht wieder zu sehen bekommt. Es sind Tausende, Zig-Tausende, Hunderttausende, ja eine Million und vermutlich noch mehr kleine Vögel, die den Himmel im Anflug verdunkeln. Ein schier endloses, wogendes Band aus lebenden Wesen. Wolken aus kleinen, fliegenden Leibern. Die Geräuschkulisse ist ohrenbetäubend. Wie bei einem heftigen Regen. Aber es regnet keine Wassertropfen, sondern Bergfinken.
Es werden mehr. Mittlerweile sollen es über zwei Millionen Vögel sein, die am Sportgelände in Steinbach nächtigen. Sie sorgen bei der Ankunft für ein phänomenales Schauspiel. Foto: Helmut Weller |
Ein kleiner Vogel ganz groß. Groß? Na ja. Alles ist relativ. Die gefiederten Kerlchen bringen es gerade mal auf Sperlingsgröße. Aber bei ihnen macht’s auch die Masse. Bergfinken sind die nördlichen Verwandten unserer Buchfinken, von Hause aus Skandinavier oder Russen.
Vor Beginn des Winters verlassen sie ihre angestammten Brutgebiete und versuchen, in südlicher gelegenen Gefilden über die Runden zu kommen. Bestimmte Regionen Deutschlands erleben derzeit eine Invasion von ihnen, wie sie in diesem Ausmaß noch nie beobachtet wurde. Im Südschwarzwald, aber auch im nördlichen Lahn-Dill-Kreis haben diese fidelen Piepmätze den Luftraum inzwischen zu bestimmten Zeiten komplett erobert.
Man kann die Uhr danach stellen. Tagsüber verlustigen sich die auch als Nordfinken bezeichneten Sperlingsvögel in der Region und verteilen sich weitläufig. Sie unternehmen, aufgeteilt in mehr oder weniger kleinere Pulks, von der Futtersuche diktierte Erkundungsflüge bis nach Gießen, ins Sieger- oder Hessische Hinterland. Und es ist auch nicht ungewöhnlich, dass sie in Dutzendstärke oder noch größeren Einheiten an vom Menschen eingerichteten Futterplätzen im Garten auftauchen, wo sie sich auch schon mal mit Sonnenblumenkernen Vorlieb nehmen. In erster Linie sind die flinken Fiederlinge aber auf Buchecker fixiert – ihre Leib- und Magenspeise während der Wintermonate. Und davon gibt es bei uns in dieser Saison mehr als reichlich. Im Sommer ernähren sie sich vorwiegend von Insekten und Wirbellosen.
Ausgebucht! Im Hotel „Zum Bergfink“ ist kein Platz mehr frei. Man sieht vor lauter Vögeln den Baum nicht. Foto: Siegbert Werner |
Abends dann, wie abgesprochen, kehren die Verbände, rechtzeitig, bevor es dunkel wird, zu ihren windgeschützten Sammelschlafplätzen zurück. Je näher der Sonnenuntergang herangerückt, desto größer werden Schwärme. Es ist wie eine Kette ohne Ende. Der Zustrom will einfach nicht enden. Und das geht mindestens eine halbe Stunde so. Pausenlos tauchen neue Geschwader am Himmel auf. Der staunende Beobachter kann den Luftzug spüren, der von den wabernden Riesengebilden ausgeht.