Zunächst mag man denken, es sei ein Widerspruch – doch die Realität lehrt uns anderes. In Rheinland-Pfalz ist die Anzahl der getöteten Wildschweine - die Jäger sprechen von der „Schwarzwildstrecke“ - im langjährigen Durchschnitt trotz einer Intensivierung der Jagd kontinuierlich steigend. Wurden im Jagdjahr 1991/92 noch etwa 20.000 Wildschweine im langjährigen Jahresschnitt zur Strecke gebracht, so waren das 19 Jahre später bereits 55.000, Tendenz steigend wie das Rekordjahresergebnis von 2008/09 mit über 80.000 toten Tieren verdeutlicht.
Gründe für die starke Vermehrung der Wildschweine gibt es reichlich. So trägt der Klimawandel mit einer Häufung sogenannter „Mastjahre“ dazu bei. Mastjahre bescheren dem Wild ein üppiges Angebot an Waldfrüchten wie Bucheckern und Eicheln und führen in den Folgejahren zu einer erhöhten Reproduktion. Kontinuierlicher noch als Mastjahre ist die Regelmäßigkeit, mit welcher Jäger das Schwarzwild füttern: Hochrechnungen der Forschungsanstalt für Waldökologie und Forstwirtschaft, Rheinland-Pfalz, zufolge bringen Jäger dazu jedes Jahr bis zu 1.384 Tonnen (!) Mais zum Anfüttern des Wildes in den rheinland-pfälzischen Wald - zusätzlich zu dem Angebot unserer immer häufiger monokulturell angelegten Landwirtschaft, die den Schwarzkitteln mit riesigen Mais- oder Rapsfeldern übrigens eine prächtige Deckung bietet.
Das Landwirtschafts- und Umweltministerium in Mainz versucht gemeinsam mit dem Landesjagdverband, den Bauern und anderen Interessensgruppen dieser Entwicklung mit einer seit Jahren zunehmenden Intensivierung der Jagd zu begegnen – bisher ohne Erfolg.
Dabei gibt es in Rheinland-Pfalz kaum noch Tabus: Da werden revierübergreifende Gesellschaftsjagden mit Hundertschaften von Jägern und Treibern mit ihren Jagdhunden veranstaltet, das Jagen der für das Sozialgefüge so wichtigen Leitbachen - ob tragend oder nicht - wird propagiert, Frischlingsfallen aufgestellt, Tiere in der Winterruhe gestört, die Jagd des nachts mit Zusatzscheinwerfern erlaubt und Schonzeiten aufgehoben.
Der Umgang mit den Wildschweinen stößt auch im Kreis der Jägerschaft auf zunehmende Akzeptanzprobleme und auf Widerstand. Erhard Bäder, der Geschäftsführer des Landesjagdverbandes Rheinland-Pfalz, beklagte erst kürzlich den „Stress für seine Jäger“. Andere halten die Wertung der Tiere als Schädlinge für nicht tragbar. Schon 2002 prangert Norbert Happ, der bekannteste deutsche Wildschweinkenner – selber Jäger – an: „Die Nachwuchsschwemme ist hausgemacht". Für die explosionsartige Vermehrung der Wildschweine seien die Jäger selbst verantwortlich. „Ungeordnete Sozialverhältnisse im Schwarzwildbestand mit unkoordiniertem Frischen und Rauschen und unkontrollierbarer Kindervermehrung sind ausschließlich der Jagdausübung anzulasten.“
Zur Intensivierung der Jagd kommt eine Langzeitstudie von Wissenschaftlern um Sabrina Servanty, die 2009 im renommierten „Journal of Animal Ecology" veröffentlicht wurde, zu folgendem Ergebnis: Starke Bejagung führt zu einer deutlich höheren Fortpflanzung und stimuliert die Fruchtbarkeit bei Wildschweinen. In Gebieten, in denen wenig Jäger unterwegs sind, ist die Vermehrung der Wildschweine deutlich geringer, die Geschlechtsreife bei den Bachen tritt später und erst bei einem höheren Durchschnittsgewicht ein.
Prof. Dr. Josef H. Reichholf, der die Abteilung Wirbeltiere der Zoologischen Staatssammlung München leitet, führt diesen Sachverhalt auch darauf zurück, dass in einem Gebiet in welchem durch die Jagd viele Tiere getötet werden, die Verbliebenen ein besseres Futterangebot haben. „Tiere, die gestärkt überleben, pflanzen sich im Frühjahr zeitiger und zahlenmäßig stärker fort", sagt Reichholf.
Es gibt zahlreiche Indizien dafür, dass die Schwarzwildjagd trotz oder vielleicht gerade wegen der intensiven Bejagung hinsichtlich ihrer Effektivität am Ende ist. Neben tierschutzrechtlichen und ethischen Bedenken stößt die Jagd auch an zeitliche und räumliche Grenzen.
Eine Alternative zum hohen Jagddruck könnte nach Meinung von Lovis Kauertz, Wildtierschutz Deutschland e.V., die Rückkehr zur herkömmlichen Ansitzjagd sein, verbunden mit der strikten Unterlassung jeglicher Fütterung und im Rahmen der üblichen Jagdzeiten im Herbst und Winter. Unterstützen könnte man diesen Weg mittels Empfängnisverhütung in punktuell kritischen Regionen. Impfstoffe mit EU-Zulassung, die auch im Hinblick auf die Verwertung des Wildbrets unbedenklich sind, stehen im Bereich der Nutztierhaltung bereits zur Verfügung. Allerdings bedürfen hierzu einige Bereiche noch der wissenschaftlichen Begleitforschung, welche das Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW), Berlin, voranbringt. Um eine Finanzierung des 3-4 Jahre dauernden Projektes bemüht sich Wildtierschutz Deutschland.
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